Stell dir vor, auf dem Weg ins Jenseits gäbe es eine riesige Bibliothek, gesäumt mit all den Leben, die du hättest führen können. Buch für Buch gefüllt mit den Wegen, die deiner hätten sein können.
Hier findet sich Nora Seed wieder, nachdem sie aus lauter Verzweiflung beschlossen hat, sich das Leben zu nehmen. An diesem Ort, an dem die Uhrzeiger immer auf Mitternacht stehen, eröffnet sich für Nora plötzlich die Möglichkeit herauszufinden, was passiert wäre, wenn sie sich anders entschieden hätte. Jedes Buch in der Mitternachtsbibliothek bringt sie in ein anderes Leben, in eine andere Welt, in der sie sich zurechtfinden muss. Aber kann man in einem anderen Leben glücklich werden, wenn man weiß, dass es nicht das eigene ist?
Matt Haig ist ein zauberhafter Roman darüber gelungen, dass uns all die Entscheidungen, die wir bereuen, doch erst zu dem Menschen machen, der wir sind. Eine Hymne auf das Leben – auch auf das, das zwickt, das uns verzweifeln lässt und das doch das einzige ist, das zu uns gehört.
Nora Seed steckt in einer tiefen Lebenskrise. Sie hat ihren Job verloren, ihre geliebte Katze ist gestorben und die Beziehungen zu den wenigen Menschen, die ihr wichtig sind, sind zerbrochen. Überwältigt von Einsamkeit und Schuldgefühlen stellt sie sich die quälende Frage, ob ihr Verschwinden aus der Welt überhaupt jemanden interessieren oder ob es für alle sogar eine Erleichterung wäre. Diese Gedanken treiben sie schließlich zu dem Entschluss, ihr Leben zu beenden.
Doch anstatt in der Dunkelheit zu versinken, erwacht Nora an einem merkwürdigen Ort – der Mitternachtsbibliothek. Diese geheimnisvolle Bibliothek befindet sich zwischen Leben und Tod, und jede der unzähligen Bücherreihen enthält eine alternative Version ihres Lebens. Hier begegnet sie ihrer ehemaligen Schulbibliothekarin, Mrs. Elm, die ihr erklärt, dass sie in jedem Buch ein Leben erforschen kann, das auf Entscheidungen basiert, die sie in der Vergangenheit hätte anders treffen können. Jedes Buch ist eine Welt, in der sie einen anderen Weg eingeschlagen hat: ob als berühmte Musikerin, erfolgreiche Gletscherforscherin, Wissenschaftlerin oder glückliche Ehefrau.
Während Nora in diese alternativen Leben eintaucht, entdeckt sie sowohl erfüllende als auch enttäuschende Realitäten. Manche Versionen erscheinen perfekt, doch bei genauerem Hinsehen offenbaren sie unerwartete Schattenseiten. Immer wieder kehrt sie in die Bibliothek zurück, je mehr sie erkennt, dass Glück und Zufriedenheit nicht nur von äußeren Erfolgen abhängen, sondern auch von inneren Einstellungen und den kleinen Momenten des Alltags.
Durch ihre Erfahrungen beginnt Nora zu verstehen, was wirklich zählt: Selbstakzeptanz, Vergebung und die Fähigkeit, mit der Vergangenheit abzuschließen. Sie begreift, dass es nicht darauf ankommt, ein makelloses Leben zu führen, sondern die schönen Augenblicke und Beziehungen zu schätzen, die sie bereits hatte.
Als die Zeit in der Mitternachtsbibliothek knapp wird, muss Nora eine wichtige Entscheidung treffen: Will sie weiter nach dem perfekten Leben suchen oder in ihr eigenes, unvollkommenes, aber wertvolles Leben zurückkehren?
Matt Haig verarbeitet in seinem Roman viele tiefgründige, philosophische Gedanken und greift dabei Zitate von Thoreau und Nietzsche auf. Diese Elemente sind jedoch so in die Geschichte eingebunden, dass sie auch für Leser ohne philosophischen Hintergrund verständlich bleiben. An manchen Stellen hätte ich mir sogar gewünscht, dass einige der aufgeworfenen Fragen noch weiter vertieft worden wären. Besonders Noras Gedankengang, ob es überhaupt möglich sei, niemanden zu verletzen, wurde mir zu schnell abgewürgt, obwohl gerade hier viel Potenzial für tiefere Reflexionen vorhanden gewesen wäre.
Noras Charakter empfand ich insgesamt als etwas zu oberflächlich gezeichnet. Ihre Art wirkte auf mich eher plump und salopp, was es mir erschwerte, mich emotional mit ihr zu verbinden. Ihre Entscheidungen konnte ich hauptsächlich auf rationaler Ebene nachvollziehen, während mir der emotionale Zugang fehlte. Das mag möglicherweise daran liegen, dass ich selbst Melancholie und Hoffnungslosigkeit kenne, aber nicht in diesem Ausmaß von Reue geprägt bin, wie es bei Nora der Fall ist. Das Ende des Romans war zwar recht vorhersehbar, was in diesem Fall jedoch nicht unbedingt negativ ist, da der Fokus klar auf der positiven Botschaft liegt.
Ein aufbauender und hoffnungsvoller Roman, der besonders für Menschen mit depressiven Angehörigen oder für jene, die oft über verpasste Chancen nachdenken, wertvolle Denkanstöße liefern kann. Haig gelingt es, Mut zu machen, ohne dabei unrealistisch oder übertrieben zu wirken.